1. Aufschwung bleibt trotz besserer Weltkonjunktur aus
Der SVR prognostiziert für das Gesamtjahr 2024 einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 0,1 %. Die Bundesregierung hatte in ihrer Herbstprojektion einen Rückgang des BIP um 0,2 % vorhergesagt. Für 2025 wird ein Zuwachs des BIP um 0,4 % erwartet. Die Bundesregierung rechnete mit einem deutlich höheren Zuwachs von 1,1 %. Für die Verbraucherpreisinflation prognostiziert der SVR Raten von 2,2 % für 2024 und 2,1 % für 2025. Der Arbeitsmarkt ist noch robust, zeigt aber bereits leichte Anzeichen der Eintrübung. Die Prognose der Arbeitslosenquote für 2024 ist 6,0 % und für 2025 6,1 %.
Das Einkommenswachstum schlägt sich wenig in der Konsumnachfrage nieder. Die Industriekonjunktur wird durch gestiegene Kosten, politische Unsicherheit und Geldpolitik belastet. Die totale Faktorproduktivität nimmt kaum zu und sorgt somit für verhaltene mittelfristige Wachstumsaussichten.
2. Zukunftsorientierung der öffentlichen Finanzen stärken
Der SVR identifiziert eine zu hohe Gegenwartspräferenz, also eine zu starke Fokussierung der Politik auf kurzfristig wirkende, den Wähler zufriedenstellende Ausgaben, als ein wesentliches Problem der öffentlichen Finanzen. Das wirkt sich vor allem in den Bereichen Bildung, Verkehrsinfrastruktur und Verteidigung aus. Der SVR schlägt Maßnahmen vor, die zukunftsorientierte Ausgaben, deren Kosten mehrheitlich in der Gegenwart und deren Erträge in der Zukunft, stärken sollen.
Hierzu werden verbindliche Mindestquoten zukunftsorientierter öffentlicher Ausgaben in Relation zur Wirtschaftsleistung oder anderen Indikatoren vorgeschlagen. Diese könnten z.B. im Bereich Bildung zur Anwendung kommen. Weitere Vorschläge umfassen die Einrichtung von Sondervermögen bzw. Infrastrukturfonds vor allem für Zwecke der Verkehrsinfrastruktur. Darüber hinaus werden auch eine verstärkte Ausstattung von öffentlichen Unternehmen mit Eigenkapital und die (Wieder-)Einführung einer “Goldenen Regel”, die Investitionsausgaben von der Schuldenbremse ausnimmt, diskutiert. Der SVR wiederholt auch seine Vorschläge zu einer moderaten Anpassung der Schuldenregel.
Das Kapitel wird durch eine Mindermeinung des Sachverständigenratsmitglied Prof. Dr. Monika Grimm ergänzt, die die Vorschläge der übrigen Ratsmitglieder kritisiert und auf deren mangelnde Praktikabilität hinweist. Demgegenüber wird die Notwendigkeit von Strukturreformen betont, um die Spielräume, die für zukunftsorientierte Ausgaben verfügbar sind zu erhöhen. Hierzu sollen folgende Schritte unternommen werden:
- (Teilweiser) Rückzug des Staates aus Wirtschaftsbereichen, die nicht zu den Staatsaufgaben zählen
- Verlässliche Rahmenbedingungen anstelle von Subventionen
- Konsequente Ausgabenkritik, u.a. durch Hinzuziehen von Kosten-Nutzen-Analysen
- Eine Reform der Schuldenbremse sollte nur unter der Voraussetzung erfolgen, dass strukturelle Reformen ergriffen werden, die zukunftsorientierte Ausgaben der öffentlichen Hand stärken und Investitionen des Privatsektors anreizen.
- Strukturreformen zur Schaffung von Spielräumen in den Haushalten, hierzu werden u.a. die Vorschläge des SVR u.a. aus dem Jahr 2023 zur nachhaltigen Aufstellung der Altersvorsorge und sozialen Sicherungssysteme wiederholt:
- In der gesetzlichen Rentenversicherung sollten das Renteneinstiegsalter an die Entwicklung der ferneren Lebenserwartung gekoppelt,
- der Anstieg der Bestandsrenten gedämpft und
- die abschlagsfreie Altersrente für besonders langjährig Versicherte (sog. „Rente ab 63“), Mütter- und Witwenrente hinterfragt werden.
- Eine Stärkung der privaten Altersvorsorge könnte zudem mittel- bis langfristig die Abhängigkeit von der gesetzlichen Rente reduzieren.
- Für eine effizientere Gestaltung der Sozialen Sicherungssysteme sollten sich die Beiträge zur Finanzierung dabei am Leistungsfähigkeitsprinzip orientieren, während die Bedarfsprüfung nach dem Haushaltsprinzip erfolgen sollte. So ließe sich in vielen Fällen eine gezieltere und bedarfsgerechtere Förderung erreichen.
3. Digitale Innovationen im Finanzsektor ermöglichen, Finanzstabilität sichern
Der digitale Wandel im Finanzsektor verspricht Fortschritte bei der Kosteneffizienz durch Prozessinnovation und mehr Wettbewerb. Der SVR schlägt vor, regulatorische Experimentierräume zu schaffen, um Risiken aus der Geschäftstätigkeit neuer Akteure angemessen zu regulieren und Innovationen nicht unnötig auszubremsen. Aus Sicht des SVR verspricht der digitale Euro Verbesserungen im europäischen Zahlungsmarkt und eine Absicherung gegen geopolitische Risiken.
4. Wohnen in Deutschland: Knappheiten beheben und Zugang erleichtern
Die Knappheit von Wohnraum in Ballungsgebieten wird als gesamtwirtschaftliches Problem betrachtet, da sie den Zuzug von Arbeitskräften in besonders produktive Regionen hemmt. Vorgeschlagen wird, das Wohnraumangebot durch die Mobilisierung von Baulandpotenzialen, stärkeren Bauanreizen und Senkung der Baukosten mittels harmonisierter Bauvorschriften zu erhöhen. Soziale und finanzielle Umzugshürden sollten für eine effizientere Wohnraumnutzung abgebaut werden. Das Gutachten enthält außerdem Vorschläge für die Optimierung der sozialen Wohnungspolitik.
5. Güterverkehr zwischen Infrastrukturanforderungen und Dekarbonisierung
Die wirtschaftliche Entwicklung wird durch den zunehmend schlechteren Zustand der Straßen- und Schieneninfrastruktur belastet. Höhere Investitionen sind erforderlich. Eine Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene ist nur begrenzt möglich. Der SVR rät der Politik, sich für eine schnelle und effiziente Dekarbonisierung des Straßengüterverkehrs auf den bedarfsgerechten Aufbau der Ladeinfrastruktur für batterieelektrische LKW zu fokussieren.
Bewertung
Seit 5 Jahren ist die deutsche Volkswirtschaft nicht mehr gewachsen. Der SVR weist zurecht darauf hin, dass eine solch langandauernde Phase strukturelle Probleme, wie ein dauerhaft gesenktes Produktionspotenzial und leidende Wettbewerbsfähigkeit zur Folge haben. Die Mobilisierung privater Investitionen würde durch Verbesserungen im Finanzsektor sowie im Infrastrukturbereich gestärkt. Es müssen jedoch nach wie vor die drängendsten Themen wie Entbürokratisierung oder Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit durch Steuererleichterungen im Vordergrund stehen. Eine Verbesserung der konjunkturellen Situation ist nicht in Sicht: Für das kommende Quartal wie auch für 2024 insgesamt ist mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung zu rechnen. Auch für 2025 erscheint die pessimistischere Prognose des SVR realistischer als die der Bundesregierung. Die Prognose des SVR bezieht die Wiederwahl von Donald Trump in den USA sowie die Risiken durch das vorzeitige Ende Ampel-Regierung noch nicht mit ein. Vor diesem Hintergrund ist eine weitere Abwärtsrevidierung der Wachstumsprognose wahrscheinlich.
Grundsätzlich ist dem SVR zuzustimmen, wenn er die zu hohe Gegenwartspräferenz als ein Grundproblem der Finanzpolitik hervorhebt und daher die Notwendigkeit einer Selbstbindung betont. Allerdings werden die Nachteile der genannten Lösungsansätze vom SVR häufig bereits selbst benannt. Ein zentrales Problem ist die Abgrenzbarkeit von Ausgaben, die als zukunftsorientiert oder nicht als solche einzustufen sind. Darüber hinaus ist ein praktisches Problem die genannten Maßnahmen verbindlich zu gestalten. Hierzu bedürfte es regelmäßig einer Verankerung im Grundgesetz, um zu verhindern, dass eine Regierungsmehrheit die Selbstbindung umgehen kann. Bereits jetzt besteht ein zum Teil nur schwer nachzuvollziehendes System von Sondervermögen, die neben dem Kernhaushalt stehen, daher ist die Einrichtung zusätzlicher u.U. kreditfinanzierter Sondervermögen nicht zielführend.
Das Gutachten zeigt außerdem die Notwendigkeit der Schuldenbremse auf und macht deutlich, dass ein Aufweichen der Schuldenbremse nicht dazu führen wird, dass zukunftsorientierte Ausgaben priorisiert werden.
Es ist wichtig, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen aus dem Jahresgutachten des vergangenen Jahres zum Umgang mit dem demografischen Wandel in der Alterssicherung in der Mindermeinung der Sachverständigen Grimm erneut vorgetragen werden. Sie behalten angesichts des Endes der Ampel-Regierung ihre Gültigkeit. Das Rentenpaket II darf nicht verabschiedet werden.